Ist der Berliner Baunutzungsplan von 1958 bald ungültig?

Zwei wesentliche Unterschiede im Planungsrecht teilen die Stadt Berlin auch fast 30 Jahre nach Mauerfall.

von Almut Guthmann Veröffentlicht am:

Im Westen Baunutzungsplan. Im Osten § 34 BauGB.

Im Westen der Stadt gilt offiziell noch der Baunutzungsplan aus dem Jahr 1958 mit der dazugehörenden Bauordnung, soweit kein B-Plan vorliegt für einzelne Gebiete. Im Ostteil der Stadt gilt § 34 BauGB, wonach sich Gebäude nach Art und Maß in die vorhandene Bebauung einfügen müssen. Die Stadt der 60iger Jahre sollte autogerecht, durchgrünt und weniger verdichtet sein, die Altbauten mit ihren engen Hinterhöfen wurden als Mietkasernen verunglimpft. Das Maß der baulichen Nutzung (die GFZ) wurde daher auch für stark verdichtete Innenstadtgebiete (Baustufe V/3) auf 1,5 begrenzt. Erst nach massiven Protesten und Hausbesetzungen gegen Abriss wurde 1984 die IBA (Internationale Bauausstellung) vom Senat ins Leben gerufen zur behutsamen Stadterneuerung. 1987 folgte dann die IBA neu unter dem Namen Kritische Rekonstruktion. Die Dichte und Blockstruktur der Europäischen Stadt wurde als Qualität wieder entdeckt. Die Traufkante gilt bis heute. Außerdem waren im Vergleich zu den Sozialbauten der IBA die Altbauten die eigentlichen Sozialwohnungen mit wesentlich günstigeren Mieten.

Bezirksämter im ständigen Workaround

Da mit dem Maß der baulichen Nutzung von 1,5 keine Neubauten in Blockstruktur oder Dachgeschossausbauten möglich sind, behelfen sich die Bezirksämter bis heute mit Leitlinien zur Genehmigungspraxis, in der sie festlegen, bis zu welcher GFZ eine Befreiung erteilt werden kann. Befreiungen sind bekanntlich gebührenpflichtig. Tempelhof-Schöneberg und Neukölln haben sehr ähnliche Wortlaute, beide Bezirke gehen von einer zulässigen GFZ von 3,75 aus.

Eine Sensation für künftige Genehmigungsverfahren

Am 17.März 2017 entschied die 19. Kammer des Verwaltungsgerichtes, dass der Berliner Baunutzungsplan für zwei Bauanträge in Neukölln als funktionslos hinsichtlich der GFZ zu sehen sei.

Die Kläger hatten den Ausbau von Dachgeschossen auf zwei Grundstücken in Berlin-Neukölln beantragt, die im Bereich des Baunutzungsplans, mit einer GFZ von 1,5 und im Erhaltungsgebiet liegen. Dafür wollten die Eigentümer eine Befreiung vom Nutzungsmaß erwirken, die aber verweigert wurde. Das Bezirksamt argumentierte unter anderem damit, dass mit dem Dachgeschossausbau die GFZ-Maße von 4,52 und 4,41 über dem befreiungsfähigen Maß von 3,75 liegen würde. Auch ein Widerspruchsverfahren der Eigentümer blieb ohne Erfolg. Deswegen erhoben die bauwilligen Eigentümer Klage am Verwaltungsgericht um feststellen zu lassen, dass ihre Bauvorhaben gar keiner planungsrechtlichen GFZ- und GRZ-Befreiung bedürften, da der Baunutzungsplans funktionslos geworden sei.

Das Verwaltungsgericht entschied erstinstanzlich im Sinne der Kläger. Hält dieses Urteil auch in der zweiten Instanz, wird es wegweisend für zukünftige Genehmigungsverfahren werden. Denn ist der Baunutzungsplan funktionslos hinsichtlich der GFZ, ist auch keine Befreiung notwendig.

Die Argumentation ist logisch und baut aufeinander auf: Da keines der Grundstücke in der Nachbarbebauung das Maß der Baunutzungsverordnung einhält, wird sogar bezweifelt, dass dieses Maß jemals bei Baustufe V/3 vollzugsfähig war! Beide Grundstücke liegen im Bereich einer Erhaltungssatzung, in der vorhandenes Milieu und Gebäudestruktur in besonderem Maße geschützt werden soll. Die jahrelange Praxis der Befreiung und die städtebaulichen Leitlinien auf Bezirksebene, in denen eine GFZ von 3,75 als genehmigungsfähig definiert werden, sind ein weiteres Indiz dafür, dass die städtebaulichen Ziele von 1958 hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung längst aufgegeben wurden.

Künftig keine Einzelprüfungen

Denkt man die Argumentation des Verwaltungsgerichtes weiter, so wäre die logische Konsequenz, auch die blockweise Einzelfallprüfung hinsichtlich der GFZ aufzugeben. Denn Leitlinien werden bezirksweit ausgegeben. Wenn Maßfestsetzungen obsolet sind, ist ein Bauvorhaben nach §34 BauGB zu betrachten. Die derzeitige Praxis mancher Bezirke, fast flächendeckend Milieuschutzgebiete als Instrument zur Mietenregulierung einzusetzen, spricht für eine weitere klare Abkehr von den Zielen der 57 Jahre alten Baunutzungsverordnung hinsichtlich der Überbauung von Grundstücken und spricht auch für die Aufgabe blockweiser Betrachtung.

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