Urteil des Bundesverwaltungsgerichts beendet Berliner Vorkaufspraxis

Vorkaufsrechte waren das Damoklesschwert über jedem Verkauf von Mietshäusern in Milieuschutzgebieten. Wir analysieren, wie viele Fälle geprüft, gezogen oder abgewendet wurden. Eine erste Analyse, wie es weiter gehen könnte. 

von Peter Guthmann Veröffentlicht am:

Bundesverwaltungsgericht stoppt Berliner Vorkaufspraxis

Nach dem Mietendeckel-Urteil aus Karlsruhe folgt nun der Richerspruch aus Leipzig zur Berliner Vorkaufspraxis. Die Richter am Bundesverwaltungsgericht haben der Argumentation vieler Berliner Bezirke, mit der Vorkäufe pauschal begründet wurden, einen Riegel vorgeschoben. Der verklagte Bezirk, in diesem Fall das Bezirksamt von Friedrichshain-Kreuzberg, hatte den Vorkauf mit der Begründung ausgeübt, dass beim Kauf durch den Ersterwerber in der Zukunft eine Verdrängungsgefahr für einen Teil der Wohnbevölkerung bestehe und unterstellt dem Ersterwerber per se schlechte Absichten.

Die Richter bewerten die Lage anders und stellen fest, dass ein Vorkaufsrecht ausgeschlossen ist, "wenn das Grundstück entsprechend den Zielen oder Zwecken der städtebaulichen Maßnahmen bebaut ist und genutzt wird und eine auf ihm errichtete bauliche Anlage keine Missstände oder Mängel im Sinne des § 177 (...) aufweist".

Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass die Richter die pauschale Bewertung von Käufern als Gefährdung für das Wohl der Allgemeinheit verurteilen. Schließlich erwirbt der Käufer ein Mietshaus, welches bereits nach den Zielen des Milieuschutz genutzt wird und unterliegt nach seinem Kauf den selben Regeln, wie der Alt-Eigentümer. 

Richter entpolitisieren Vorkaufsrecht

Aus Sicht einiger Bezirke sollten Verkäufe von Mietshäusern in Berlin am besten gar nicht stattfinden. Trotz des geltenden, umfassenden Mieterschutzes werden Transaktionen gegenüber Mietern und Medien zu einer Bedrohung stilisiert. Diesem Narrativ folgt der Senator für Stadtentwicklung und Wohnen, Sebastian Scheel, der das Urteil als Katastrophe für die Mieter und Mieterinnen in Berlin bezeichnet. Neben einem merkwürdigen rechtsstaatlichen Verständnis, kann der Senator auch nicht schlüssig begründen, warum das Urteil katastrophal sein soll. Mieter und Mieterinnen sind weder beim Alt-, noch beim Neueigentümer einer Bedrohung ausgesetzt. Kommt es zu einer Teilung nach WEG durch den Neueigentümer,  darf dieser für die Dauer von 7 Jahren ausschließlich an die Mieter verkaufen. Nach diesem Zeitraum geniessen die Mieter auch weiterhin das Vorkaufsrecht für die Wohnung und nach einem Verkauf an Dritte weitere 5 Jahre Sonderkündigungsschutz vor Eigenbedarf. In Summe sind Mieterinnen und Mieter damit für einen Zeitraum von mindestens 12 Jahren vor jeglicher Änderung geschützt. Das entspricht zweieinhalb Legislaturperioden.

Jahresberichte des Senats: 637 Prüffälle seit 2017

Der Berliner Senat legt dem Abgeordnetenhaus seit 2017 einen Jahresbericht über die Wahrnehmung von Vorkaufsrechten vor, aus dem hervorgeht, wie viele Anträge auf Wahrnehmung des Vorkaufsrechtes geprüft, abgewendet, ausgeübt, bzw. aus Sicht des Bezirks erfolglos geblieben sind, z.B. weil sich kein kaufinteressierter Dritter gefunden hat.

Was passiert mit offenen Fällen?

Bis zu 10 Fälle, in denen es zu keiner "Einigung" zwischen den Bezirken und den Käufern gekommen ist, sind derzeit vor Gerichten anhängig. Mitunter warten die Kläger, also die Erstkäufer, die gegen die Ausübung durch die Bezirke klagen, seit mehreren Jahren auf einen Gerichtstermin. Es ist davon auszugehen, dass diese Fälle nun zugunsten der Erstkäufer entschieden werden. Ob der eine oder andere Bezirk einen schwebenden und beklagten Vorkauf nun zurückzieht, wird auch von Kostenfragen abhängen und davon, wer Kosten für Verfahren und Anwälte tragen muss. Je länger ein Fall in der Schwebe ist, desto höher die potenziellen wirtschaftliche Schäden. Für die Bezirke könnte die jahrelange Praxis teuer am Ende teuer werden, wenn Käufer oder Verkäufer Schadensersatzforderungen stellen. 

Ausgeübte Fälle seit 2017

Liegt (lag) ein Prüffall vor und fehlt(e) die Bereitschaft des Käufers, die Abwendunsgvereinbarung des Bezirkes zu akzeptieren, kann oder konnte der Bezirk nach § 24 BauGB das Vorkaufsrecht ausüben. Die Tatsache, dass der Bezirk ausüben kann, bedeutet nicht zwangsläufig, dass er auch tatsächlich ausübt, denn auch in Fällen, in denen der Bezirk keinen vorkaufswilligen Dritten findet, wird versucht, mit der Möglichkeit der Ausübung Druck auf den Käufer auszuüben. Die Ausübungen seit 2017 sehen Sie nachfolgend:

  2017 2018 2019 2020 Summe
Mitte 0 3 4 4 11
Friedrichshain-Kreuzberg 8 8 8 6 30
Pankow 0 1 2 3 6
Charlottenburg-Wilmersdorf 0 0 0 0 0
Spandau 0 0 0 0 0
Steglitz-Zehlendorf 0 0 0 0 0
Tempelhof-Schöneberg 0 3 5 0 8
Neukölln 3 5 5 5 18
Treptow-Köpenick 0 1 1 0 2
Marzahn-Hellersdorf 0 0 0 0 0
Lichtenberg 0 0 1 0 1
Reinickendorf 0 0 1 0 1
Berlin 11 21 27 18 77

Prüffälle seit 2017

  2017 2018 2019 2020 Summe
Mitte 0 23 34 57 114
Friedrichshain-Kreuzberg 24 26 29 51 130
Pankow 3 51 17 24 95
Charlottenburg-Wilmersdorf 0 0 0 2 2
Spandau 0 0 0 3 3
Steglitz-Zehlendorf 0 0 0 0 0
Tempelhof-Schöneberg 0 20 29 34 83
Neukölln 18 48 25 56 147
Treptow-Köpenick 0 12 12 13 37
Marzahn-Hellersdorf 0 0 0 0 0
Lichtenberg 0 3 8 9 20
Reinickendorf 0 0 3 3 6
Berlin 45 183 157 252 637

Wie reagieren Käufer, die abgewendet haben?

Wenn Käufer sich mit den Regelungen der Abwendungsvereinbarung einverstanden erklärten, konnten die Bezirke das Vorkaufsrecht nicht mehr ausüben. Insgesamt war die 292 mal der Fall. Für diese Käufer könnte sich nun möglicherweise eine Tür öffnen, um die Vereinbarung, deren Rechtsgrundlage entfallen ist, mit dem Bezirk aufzukündigen. Die Praxis hat bewiesen, dass die Bezirke offensiv nach dem Maximalprinzip verhandelt haben. Viele Käufer, die nur zähneknirschend auf überzogenen Forderungen eingegangen sind, werden anstreben, aus der Vereinbarung herauszukommen. Die Unnachgiebigkeit der Bezirke könnte sich nun gegen sie wenden.

Abgewendete Fälle

  2017 2018 2019 2020 Summe
Mitte 0 13 12 31 56
Friedrichshain-Kreuzberg 11 13 13 26 63
Pankow 2 10 10 11 33
Charlottenburg-Wilmersdorf 0 0 0 2 2
Spandau 0 0 0 3 3
Steglitz-Zehlendorf 0 0 0 0 0
Tempelhof-Schöneberg 0 14 10 20 44
Neukölln 1 22 8 35 66
Treptow-Köpenick 0 2 5 5 12
Marzahn-Hellersdorf 0 0 0 0 0
Lichtenberg 0 0 2 7 9
Reinickendorf 0 0 1 3 4
Berlin 14 74 61 143 292

Kauf ohne Abwendung

In Summe sind die Fälle, in denen ein Käufer ohne Abwendungsvereinbarung erwerben konnte, überraschend hoch. Solche Fälle wurden von Bezirken und Senatsverwaltung als “erfolglose Vorgänge” bewertet:

Ankäufe ohne Abwendung

  2017 2018 2019 2020 Summe
Mitte 0 7 18 22 47
Friedrichshain-Kreuzberg 5 5 8 19 37
Pankow 1 40 5 10 56
Charlottenburg-Wilmersdorf 0 0 0 0 0
Spandau 0 0 0 0 0
Steglitz-Zehlendorf 0 0 0 0 0
Tempelhof-Schöneberg 0 3 14 14 31
Neukölln 14 21 12 16 63
Treptow-Köpenick 0 9 6 8 23
Marzahn-Hellersdorf 0 0 0 0 0
Lichtenberg 0 3 5 2 10
Reinickendorf 0 0 1 0 1
Berlin 20 88 69 91 268

Prüffälle zuletzt erheblich gestiegen

Wie wichtig das BVerwG-Urteil zur Berliner Vorkaufsrechtspraxis war, zeigt die rasch gestiegene Anzahl der Prüffälle. Es wird deutlich, dass die Bezirke nicht die Absicht hatten, die Vorkaufspraxis zurückzufahren.

Fazit

Das Urteil aus Leipzig rückt unmissverständlich klar, dass weder Landespolitik noch Bezirksverwaltungen bis hinunter zu Baustadträten geltendes Recht nach eigenen Maßstäben interpretieren und anwenden dürfen. Die Erhaltungssatzungen nach §172 BauGB werden durch den Richterspruch wieder auf ihren Kern als städtebauliches Instrument zurückgeführt. Weiter ist mit dem Urteil deutlich geworden, dass politische Entscheidungen und ihre Umsetzung durch Verwaltungen nicht auf die Ebene eines bestimmten Gruppen dienenden, willfährigen Aktivismus degradiert werden dürfen.  

Unsicher bleibt zunächst, ob auf Ebene der Sache dauerhaft entwarnt werden kann. Unter der sich anbahnenden neuen Koalition ist eine Novellierung des Baugesetzbuches nicht unwahrscheinlich. In diesem Zuge wird möglicherweise auch die Vorkaufsrechtpraxis neu geregelt. 

Wachsende Zahl von Milieuschutzgebieten

Von 2015 auf 2020 hat sich die Anzahl der sozialen Erhaltungsgebiete (Milieuschutzgebiete) in Berlin von 22 auf 66 verdreifacht. In Pankow sind, Stand Oktober 2021, 14 Gebiete in Kraft, in Mitte 11, in Friedrichshain-Kreuzberg 9, in Tempelhof-Schöneberg 8, Neukölln 7, Treptow-Köpenick 7, Lichtenberg 3, Charlottenburg 2 und in Reinickendorf 1 Milieuschutzgebiet, wobei das Reinickendorfer Erhaltungsgebiet zurückgenommen werden musste aufgrund ungenauer Untersuchungsgrundlagen. Das Bestreben von Senat und Bezirken ist die Erweiterung um neue Gebiete; das erklärte langfristige Ziel der zuletzt von den Linken geführten Senatsverwaltung für Stadtentwicklung ist ein flächendeckendes Netz in Berlin.

Liegt Ihr Miethaus in einem Milieuschutzgebiet?

Prüfen Sie in unserer Milieuschutz-Map, ob Ihr Mietshaus in Berlin in einem Verdachts-, Untersuchungs- oder Milieuschutzgebiet liegt.

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